Die Hexe Waluburg
Bei der einzigen konkreten Quelle zu einer germanischen Seherin mit dem Namen Waluburg handelt es sich um eine Tonscherbe aus dem 2. Jahrhundert, die auf der ägyptischen Insel Elephantine gefunden wurde, deren altgriechische Inschrift lautet (übersetzt): „Waluburg, Sibylle der Semnonen“. Dabei ist „Sibylle“ die griechische Gattungsbezeichnung für all jene Frauen „die, durch die Seherkunst von Gott erfüllt, vielen wahrsagten und ihnen oft für die Zukunft die Richte gaben“. Waluburg ist also eine gottbegeisterte Prophetin der germanischen Semnonen, eine enthusiasmierte Zauberin, eine - Schamanin. Gleichsam spricht ihr Name dafür, dass Waluburg in besonderer Beziehung zum germanischen Schamanengott Odin/Wotan stand, wird dieser in der Edda doch auch „Wal-Vater“ genannt:
Er heißt auch Walvater, weil er alle diejenigen als Söhne annimmt, die auf der Walstatt fallen. Er nimmt sie in Walhall und Wingolf auf, wo sie dann Einherjer heißen.
(Gylfaginning 20)
Bemerkenswert ist unterdessen, dass der Name „Waluburg“ so stark erinnert an das berühmt-berüchtigte Hauptfest der Hexen auf dem Blocksberg in der Nacht zum 1. Mai, die „Walpurgisnacht“. Handelt es sich hierbei um Zufall? Oder einen Wink mit dem Zaunpfahl und einen eindeutigen Beleg dafür, dass der von den Christen so genannte „Hexensabbat“ in Wirklichkeit ein heidnisches Schamanenfest war? Eliade weist darauf hin, dass im Schamanismus nicht nur der Weltenbaum verehrt wird, sondern auch der
Weltenberg: „Ein anderes mythisches Bild dieses ‚Zentrums der Welt‘, welches die Verbindung zwischen Himmel und Erde ermöglicht, ist das Bild vom Kosmischen Berg“. Von den nepalesischen Schamanen ist bekannt, dass sie einmal im Jahr auf den heiligen Berg Kalinchok pilgern, um dort im Silberschein des Vollmondes ein hehres Fest zu Ehren des hinduistischen Schamanengottes Shiva zu feiern. Die altgriechischen Ekstatiker — die rasenden Mänaden - ihrerseits stiegen auf den Parnassós, um dem wilden Gott Dionysos zu huldigen. Die Itako, blinde Schamaninnen aus Japan, treffen sich auf dem Geisterberg Osore-zan. Ist der Brocken im Harz also der germanische Schamanenberg? Und Waluburg ein Überbegriff für alle Hexen, die zum Schamanensabbat ziehen? Tatsächlich lässt sich die Wurzel walu zurückführen auf das gemeingermanische Wort *walus für „Stab“. Das Wort -burg wiederum bedeutete ursprünglich „befestige Höhe“ und lässt sich linguistisch mit „Berg“ zusammenbringen. Demnach ist Waluburg diejenige, „die mit dem Zauberstab zum Berg fliegt“.
Zur Zeit des Heidentums waren es Königinnen und edle Frauen, von welchen man sagte, daß sie in den Lüften zu fliegen verstünden, und diese Zauberkunst, die damals für etwas Ehrenwertes galt, wurde später, in christlicher Zeit, als eine Abscheulichkeit des Hexenwesens dargestellt. Der Volksglaube von den Luftfahrten der Hexen ist eine Travestie alter germanischer Traditionen und verdankt seine Entstehung keineswegs dem
Christentum, wie man aus einer Bibelstelle, wo Satan unseren Heilland durch die Lüfte führt, irrtümlich vermutet hat.
Die Vorstellung, dass Hexen fliegen können, ist kein Aberglaube oder Hirngespinst. Vielmehr ist der Hexenflug eine Schamanenpraxis par excellence. Weltweit berichteten und berichten die Schamanen, dass sie während der séance aus ihrem Körper ausfahren und durch die verschiedenen Bereiche des Kosmos fliegen, meist in der Gestalt des Tieres, dessen Fell und Federschmuck sie an ihrem Körper tragen. Auch beim Hexenflug handelt es sich mitnichten um einen physischen, sondern einen psychischen Flug, einen Flug der Seele. Der Hexenbesen, auf dem die Hexe mutmaßlich zum Blocksberg reitet, ist in Wirklichkeit der Zauberstab der Seherin, ein schamanisches Ritualobjekt, mit dessen Hilfe sie sich in Trance versetzt und „aus-sich-heraus-tritt“.