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Die erste Stufe aber ist immer die Reue, das Abbrechen der Beziehungen zum früheren Leben und die volle Konzentration auf den neuen Weg. Alles muss nun mit voller Reinheit der Intention getan werden, nicht die kleinste Spur von selbstischen Gedanken darf sich einmischen, ebenso wenig wie der Murid je seine Aufmerksamkeit erschlaffen lassen darf; ghaflat, „Nachlässigkeit“, ist wie ein gefährlicher Schlaf, in dem der Sucher sein Objekt verliert. Man unterscheidet auf dem Pfad Stationen (maqām, PL. Maqāmāt ), das sind längerwährende Haltungen, und Zustände (ḥāl, Pl. Aḥwāl), das sind flüchtige Augenblicke einer von Gott geschenkten seelischen Erfahrung, die man nicht an sich ziehen kann. Zu den wichtigsten Stationen gehört die Armut, sei es die irdische oder die geistige, hatte doch der Prophet gesagt: faqrī fachrī , „Meine Armut ist mein Stolz“. Armut bedeutet hier nicht nur den Mangel an Besitz; wenn wir allerdings den hagiographischen Werken glauben dürfen, waren viele der großen Sufis der Frühzeit so arm, dass sie kaum etwas für sich oder ihre Familie besaßen, da sie ungern Geld über Nacht bei sich behielten. Armut kann aber auch die Haltung dessen sein, der in einem Augenblick ohne Bedauern seinen gesamten Reichtum dahingeben würde, der also an keinerlei äußeren Gütern hängt. Denn er weiß „Gott ist der All-Reiche, und ihr seid die Armen“ (Sure 47,38). Aus diesem Grunde ist faqīr, „der Arme“, und sein persisches Äquivalent, darwisch (Derwisch), eine Bezeichnung für Sufis, die allerdings mehr im volkstümlichen Sinne, nicht für die großen Dichter und Denker verwendet wird. Das absolute Gottvertrauen, tawakkul, gehört hierher, das von manchen frühen Sufis bis zum Exzess geübt wurde; es schien ihnen Unglaube, nicht völlig auf Gott zu vertrauen, der doch den Namen ar-razzāq. „Der Ernährer“, trägt und daher ohne Zweifel für alle Nahrung sorgen wird. Freilich wird Gottvertrauen später eher als seelische Haltung erfahren; denn eine konsequente Durchführung des Ideals, für nichts zu sorgen, wäre in der Welt des Handelns und Wandelns nicht zu verwirklichen. So ist tawakkul jetzt das unerschütterliche Vertrauen darauf, dass Gott immer weiß, was dem Menschen am besten tut, und diese Haltung (die man auch als „Gutes von Gott denken“ definiert) hat das Leben der vom Sufismus beeinflussten Menschen zutiefst geprägt. Geduld und Dankbarkeit sind zwei weitere Stationen auf dem Pfad, und man disputierte, ob der geduldige Arme oder der dankbare Reiche den höheren Rang habe. Besonders wichtig ist das Begriffspaar Furcht und Hoffnung, die als die beiden Flügel bezeichnet werden, mit denen man zum Paradies fliegt. Furcht ist immer vorhanden, denn die Furcht vor dem Gericht Gottes bewegte doch die meisten Frommen, und selbst auf den letzten Stationen des Pfades empfindet der Sufi noch Furcht, von seinem „göttlichen Geliebten“ getrennt zu sein, „mit der verglichen die Furcht vorm Höllenfeuer gar nichts ist“. Furcht ist zumindest bis zu einem gewissen Grade notwendig, um den Menschen nicht leichtfertig werden zu lassen, und daher sahen manche frühen Sufis mit Missbilligung auf einen von ihnen, den Perser Yahya ibn Mu'adh (gest. 872), den man als „Prediger der Hoffnung“ kannte und dessen kleine Gebete immer wieder dialektisch um das Geheimnis von Gottes Gnade und menschlicher Sündhaftigkeit kreisen:
O Gott, wie kann ich dich rufen, wo ich doch ein rebellischer Knecht bin? Und wie könnte ich dich nicht rufen, wo Du doch ein gnädiger Herr bist?
Annemarie Schimmel „Sufismus – Eine Einführung in die islamische Mystik“
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