Als Wächter über Recht und Gesetz stellt man den Baum an die Gemarkung der Gemeinde; er soll wie ein Beauftragter des höchsten Richters die Flur behüten und den Frevler abhalten. Darum bestraft man den Baumfrevler wie einen Räuber oder Mörder: Wer einem grünenden Baum den Wipfel abschlägt, dem soll auf seinem Stamme das Haupt abgeschlagen werden, und wer seine Wurzel verletzt, der soll mit seinem eigenen Fuße dafür büßen. So künden es alte Bauernweistümer. Aber diese Volksweisheit ist nur zu verstehen, wenn man ihrem tiefsten Sinne nachspürt: Das heilige und unverletzliche Leben selbst ist es, was unter solch strengen Schutz gestellt wird. Im Leben des Baumes aber fließt das Leben der Vielen zusammen, die wie Stamm und Äste und Blätter des Baumes eine lebendige Gemeinschaft bilden. Lebendig spürbar ist mancherorts noch dieses Urgefühl, das aus einem uns fremd gewordenen Naturgefühl entspringt. Noch kennt man in Schweden den „Boträ", den Geschlechterbaum, in dessen Leben das Leben der Dorfgenossenschaft beschlossen ist. Von diesem Baum weiß unser niederdeutsches Märchen vom Machandelboom: er bewahrt das gemordete Leben und läßt es aufs neue erwachen; aus seinen Zweigen rauscht er Trost dem trostlosen Vater und Entsetzen dem schuldigen Mörder. In diesem Baume steckt das Wölsungenschwert, das heilige Vermächtnis der Sippe; und auch das Messer der beiden Brüder, das durch seinen Zustand verkündet, ob es dem fernen Bruder gut oder schlecht geht. Unter der Linde tritt die Dorfgemeinschaft zum Thing zusammen, zu dem die Lebendigen und die Toten durch feierlichen Aufruf entboten werden. Denn eine ununterbrochene Kette schlingt sich in Geschlechterfolge um die, welche leben, und jene, welche ehemals lebten, aber nicht aus der Gemeinschaft geschieden sind. In diesem heiligen Baume hat auch unser Maibaum seinen Ursprung. Wenn er nach winterlicher Kahlheit sein neues grünes Gewand anlegt, wenn neues Leben in seinem Stamme aufwärts steigt und sich grün und freudig entfaltet, so beginnt die hohe Zeit des Jahres und damit auch die hohe Zeit der Gemeinschaft. Der wintergrüne Baum, der in der Julnacht mit Lichtern geschmückt wurde, findet sein Gegenbild in dem sommergrünen Baume des Maien; der Geist der Gemeinschaft, den er versinnbildlicht, feiert seine hohe Zeit. Nicht nur in frohen und ausgelassenen Feiern, auch in dem Willen zur Verteidigung der Heimat findet dieser Geist seinen Ausdruck. Neben Spiel und Tanz steht die große Jahresversammlung der Wehrfähigen, die einst die Franken auf ihrem Maifeld zusammenführte, die aber heute noch die Schützenbrüderschaften zum Königsschießen ruft, das einst ein sehr ernster Wettkampf zur Ermittlung der Waffentüchtigsten gewesen ist.
An der „Merklinde" wurde einst das heilige Jahreszeichen aufgehängt; wir kennen ein Städtchen in Westfalen, wo heut noch am Maitag eine brennende Laterne oben im Geäst der Linde aufgehängt und ein Krug mit Bier, dem alten Opfertrank der Germanen, durch die Zweige heruntergegossen wird. Nicht immer hat man zum Maibaum einen gefällten Baum gewählt, der dann inmitten des Dorfes aufgestellt und mit vielerlei Sinnbildern, mit einem großen Rad und bunten Fahnen geschmückt wurde. Der lebendige Baum selbst ist sein Vorläufer, er wurde früher und wird mancherorts heute noch zur Feuer des Frühlings geschmückt. Die alten Schwaben sollen Bäume gehabt haben, die sie mit geflochtenen Zweigen und allerlei Kostbarkeiten zum Feste herrichteten.
Die Sitte des Maibaumes ist erhalten geblieben. Sorgen wir dafür, daß kein leeres Schaugepränge daraus wird, das einen Tag vorhält und dann wieder vergessen wird! Erinnern wir uns der alten heiligen Wurzeln dieses Baumes, der von dorther wächst, wo aus dem Brunnen der Urd die ewigen Wasser unseres Volkstums sprudeln."
Arbeitskreis Deutsche Mythologie, Das Erbe der Ahnen - Germanische Feste und Bräuche im Jahresring